Auf dem Weg nach Gurs
25.02.14 (Geschichte allg., Geschichten & Erzählungen)
Deportation kurpfälzischer Juden / Tagebuchaufzeichnungen
Den 22. Oktober 1940 werde ich nie vergessen. In aller Frühe bekam ich schon telefonische Anrufe von Mannheim durch jüdische Freunde: „Wir werden alle abtransportiert nach den Pyrenäen.“ Das Herz stand mir fast still. Dann erwachte gleich die Frage: Was tun? Sehr schnell konnte ich schon feststellen, daß an dem Befehl nichts mehr zu ändern war. Ich telegrafierte an Probst Grüber in Berlin, meinem Mitkämpfer und Freund, ob er in Berlin etwas erreichen könne.
Wir hatten zwei Tage zuvor, am 20. Oktober noch, miteinander beraten, ohne zu ahnen, was da geschehen sollte. Er antwortete mir, daß wir machtlos seien. Es sei eine Sonderaktion für Baden und die Pfalz. Ich suchte dann eine Verbindung mit dem Ökonomischen [sic] Rat und vor allem mit meinem Freund Dr. Adolf Freudenberg in Genf. Aber es ging ja alles viel zu schnell. Der Wagen rollte schon, von einem satanischen System, von den herzlosen Machthabern und ihren Schergen in Gang gehalten.
In einer Apotheke verschafften wir uns stark abführend wirkende Medikamente, die wirkten und halfen da und dort in einigen Fällen. „Nicht transportabel“ war dann das rettende Urteil. Der ganze Tag galt den Abschiedsbesuchen. Herzzerreißende Szenen erfüllten sie. Wir erlebten menschlich Kleines und menschlich sehr Großes an diesem Tag. Ich fuhr für zwei Stunden nach Mannheim, traf dort meinen heute in Deganja/Israel lebenden 89jährigen Freund, Kinderarzt Dr. Eugen Neter. Er brauchte nicht mitzufahren, da er mit einer Nichtjüdin verheiratet war. Aber er tat es in vollem Einverständnis mit seiner tapferen Frau. Er mußte bei seinen jüdischen Schicksals- und Leidensgenossen bleiben.
Auch hat in den 4½ kommenden Jahren dieser Mann unendlich viel für sie in Gurs getan. Ebenso handelte im jüdischen Altersheim Schwester Paula. Sie bezahlte ihren Opfergang mit dem Tode. In gleicher Weise gab sich die von uns allen hochverehrte Heidelberger Kinderärztin Dr. Geismar hin. Sie mußte sich wie so viele von Gurs auch nach Auschwitz verschleppen lassen. Von den erschütternden Abschieden in den Abendstunden dieses furchtbaren Tages, dieses Schandtages und jüdischen Passionstages, will ich nichts mehr sagen. In den kommenden Nächten ließ mich der Selbstvorwurf nicht schlafen, daß ich nicht freiwillig mit gefahren war. Manch eine Botschaft in den kommenden Jahren kam von dort und ging dorthin. Einigen konnte ich zu Pässen und Visen über Marseille und Portugal, über das Weltmeer hinweghelfen. Wir gedenken in Liebe an die, die von Gurs aus in die Todeslager geschleppt wurden, an die, die in Gurs begraben sind, und an die wenigen, die wieder heimfanden.
aus: Max Ludwig, Aus dem Tagebuch des Hans O. Dokumente und Berichte über die Deportation und den Untergang der Heidelberger Juden. Mit einem Vorwort von Hermann Maas. Heidelberg 1965, S. 9f.