Kurpfalz Regional Archiv

Geschichte(n) und Brauchtum aus der (Kur-)Pfalz

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Die Razzia und das "große Fressen"

29.11.07 (Geschichten & Erzählungen)

Hunger! Ja, er tut weh! – Wir hatten ihn kennengelernt im Winter 1946/47 als Ostflüchtlinge im bombenzerstörten Mannheim. Wir, das waren wir fünf Geschwister im Alter von 11 bis 18 Jahren und unsere Mutter. Nein, eigentlich wir fünf alleine, denn unserer Mutter hatte all das Leid des Krieges das Gemüt krank gemacht. Auch die Kälte dieses Winters war schrecklich gewesen: eisige Temperaturen noch bis in den März hinein, dabei kaum etwas zum Heizen, Stromsperren. Die Kälte hat es leicht, in einen Hungrigen hineinzukriechen. – Also, solch einen Winter wollten wir nicht noch einmal erleben.
Wir stoppelten, soweit es unsere Schulzeit erlaubte, im Sommer 1947 alles, was wir auf den Feldern finden konnten. Das große Los aber zog unser ältester Bruder: Ernteeinsatz bei Bauer Riedel in Hockenheim. Satt und richtig rund kam er nach Hause zurück, und das Beste für uns alle: Zu Weihnachten sollte er noch ein besonderes „Deputat“ für die ganze Familie bekommen. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört, aber seitdem nicht vergessen.
Es war zwei Tage vor Weihnachten. Ich war dazu auserkoren worden, das „Deputat“ in Hockenheim abzuholen. Die rührende Bäuerin packte meinen Rucksack voll: Kartoffeln, selbst ausgepresstes Rapsöl, eine Blut- und eine Leberwurst, Streuselkuchen – ich weiß es noch genau – und als Clou eine Gans, eine Weihnachtsgans für unsere Familie. „Komm, da hast du noch einen Rotkohl, der gehört doch zu einem Gänsebraten dazu!“ Ich war selig. „Vielleicht sollte ich dir zur Sicherheit eine Deputatsbescheinigung mitgeben.“ – „Wozu das?“ – „Sicher ist sicher“, meinte sie.
Der Zug zurück nach Mannheim war voll. Die Menschen standen dicht gedrängt, auch auf den Trittbrettern, fast alle mit Rucksäcken. Viele hatten versucht, für Weihnachten noch irgendeine Habseligkeit gegen etwas Essbares auf dem Land einzutauschen. Beim Halt in Schwetzingen hörten wir plötzlich laute Rufe: „Alle aussteigen! R a z z i a !“ Amerikanische Militärpolizisten und blauuniformierte Polizisten trieben uns als Kolonne in den Wartesaal. Die Tür wurde hinter uns abgeschlossen, die Fenster waren nicht zu öffnen.
Unheimliche Stille zunächst. Keiner empörte sich. Die Menschen waren durch Krieg und Nachkriegszeit Unbilden, auch Schikanen gewohnt. Rechts hinten wurde eine Tür zu einem Nebenraum geöffnet, die zwei ersten von uns hineinbeordert, nach einer Weile die nächsten und so fort. Allmählich sickerte durch: „Sie nehmen uns alles!“ Was dann begann? Kein Aufschrei, keine Empörung: Warum? Was machen sie mit unseren Sachen? Es begann – das große Fressen. Würste, Speck, auch einfach trockenes Brot, alles wurde hineingestopft. Wenigstens sich selbst einmal sattessen, bevor sie uns alles wegnehmen. Eingeprägt hat sich mir besonders das Bild, wie zwei Männer aus einer großen Blechdose Salzheringe, immer einen nach dem anderen, am Schwanz ergriffen und kopfunter in ihrem Mund verschwinden ließen. Salzheringe, wie sie früher waren, in richtiger Salzlake!
Und ich? Ich hockte einfach todunglücklich in einer Ecke. Zu essen von meinen Köstlichkeiten, das bekam ich nicht fertig. Die Deputatsbescheinigung, ach, ich hoffte noch immer. Natürlich habe ich auch gebetet, ich war ein gläubiges Kind. Der Saal leerte sich. Ich meine, ich wäre überhaupt die letzte gewesen, die in den Nebenraum befohlen wurde, zusammen mit einem Mann, mit Rucksack natürlich wie ich. Ich zeigte meine Bescheinigung und versuchte zu erklären. Aber „mein“ Polizist hörte irgendwie nicht richtig zu. Jetzt merkte ich: Er schaut zu seinem Kollegen und zu meinem „Mitgefangenen“.
Dort war ein Handgemenge entstanden. Der Rucksack des Mannes war ganz mit Zucker gefüllt. Natürlich sollte er ihn hergeben, aber er wehrte sich, überkreuzte die Arme, der Polizist konnte die Träger nicht abstreifen. Blitzschnell eilte mein Kontrolleur zu Hilfe. Zu zweit schafften sie es, den sich Wehrenden auf den Boden zu werfen, seine Arme auseinanderzudrücken, einer kniete sich auf seine Handgelenke. Das alles ging über meine Gemütskräfte. Die Tränen flossen, ich weinte bitterlich. – Und da? Die Polizistin am Tisch gab mir einen Wink, ich sollte den Raum verlassen – nicht in Richtung Wartesaal, nein, nach draußen! Den Rucksack hatte ich noch auf dem Rücken. Ich war die einzige, die bei dieser Massenrazzia all ihr Schätze behalten konnte.
Der Schluss ist schnell erzählt. Unser Zug war natürlich längst weg, auch kein anderer fuhr mehr an diesem Tag nach Mannheim. So schritt ich mit schwerem Rucksack, aber leichtem Herzen im Stockdunklen den Bahndamm entlang und erreichte am späten Abend noch meine Geschwister, die sich bereits Sorgen gemacht hatten.

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