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Die versunkenen Glocken von Wersau

07.11.95 (Burgen & Schlösser, Geschichten & Erzählungen)

Um die ehemalige Burg Wersau in Reilingen ranken sich
viele Geschichten und Ereignisse. Während die meisten
historisch belegbar sind, gehört die seit Generationen
überlieferte Geschichte von den „versunkenen
Schloßglocken“ in die Welt der Sagen und Märchen. Wenn man
die Erzählung aber genau nimmt, hätte sie durchaus so
passieren können …

Dem Schenken von Wersau, adeliger Gefolgsmann der
Pfalzgrafen und Herr über Reilingen und Hockenheim, war
nicht jeder Freier für seine schöne Tochter Edelgard
recht. Und so verschwieg sie ihrem Vater, daß sie
Heinrich, den Sohn des Reilinger Hufschmiedes,
liebgewonnen hatte. Dieser hatte in Heidelberg den Beruf
des Schmieds und Glockengießers erlernt und war nun wieder
nach Hause gekommen, um in der Schmiede des Vaters zu
arbeiten. Da der junge Bursche öfters als für ihn gut war
nach Wersau kam, wurde ihm schließlich der Zutritt zur
Burg verboten. Der Schenk aber gab seine Tochter zur
Erziehung in das Magdalenenkloster nach Speyer.

Für Heinrich war kein Weg zu weit oder der sie trennende
Rhein zu breit. So oft er konnte, half er dem Lußheimer
Fährenmeister bei der Arbeit, um als Lohn eine freie
Überfahrt zu bekommen. Die beiden Liebenden trafen sich
von da an, von den Speyerer Nonnen geduldet, im
Klostergarten. Als der mißtrauische Vater der Tochter den
beiden auf die Schliche kam und überraschend im Garten
auftauchte, konnten die Nonnen gerade noch verhindern, daß
der junge Hufschmied entdeckt wurde.
Der Ritter deutete auf einen wilden Obstbaum und sprach
spöttisch zu Edelgard: „Ich will Dir gern den Burschen zum
Manne geben, wenn dieser Busch Edelobst trägt“.

Das Jahr ging ins Land, dem Frühling und Sommer folgte
wieder ein Herbst. Und siehe, da trug der kleine Baum
herrliche Birnen von der besten Sorte. Der Schenk von
Wersau konnte nun nicht mehr zurück, denn er wollte vor
den Nonnen, die vor Jahresfrist sein Versprechen gehört
hatten, nicht als Lügner dastehen. So stimmte er
schließlich der Hochzeit von Edelgard und Heinrich zu.

Viele Jahre zogen ins Land, Kriege brachten Tod und
Verwüstung. Auch die Burg Wersau wurde zerstört und nicht
mehr aufgebaut. Längst lebten dort nicht mehr die Schenken
von Wersau, sondern ein kurfürstlicher Müller sorgte
dafür, daß die Vorratskammern in der Schwetzinger
Sommerresidenz mit Mehl stets gut gefüllt waren. Die
Burgruine bot ein trauriges Bild und immer wieder nutzte
man sie als Steinbruch.

Nur der alte Friedrich, der im nahen Reilingen eine
Schmiede betrieb, machte allabendlich seinen Gang hinaus
zum zerfallenen Gemäuer. Der Alte wußte, daß die Glocken,
die dereinst sein Vorfahre Heinrich als Dank für seine
gesunden Kinder für den Turm von Wersau gegossenen hatte,
im Burgbrunnen versenkt lagen.

Eines Abends aber erschrak er fürchterlich, denn er hörte
die Glocken aus der Tiefe heraufklingen. Schöner, wie er
vorher nie ein Glockengeläut vernommen hatte. Verzaubert
lauschte der dem hellen Klang und ging erst wieder nach
Hause, als das Geläut verklungen war. Keiner im Dorf
wollte ihm die Geschichte glauben, die er da erzählte.

Erst am anderen Tag, als ein Kurier die Nachricht vom
brennenden Speyer brachte, wußte Friedrich und das ganze
Dorf, was das Geläut der Glocken bedeutet hatte: Ein
letzter Gruß für eine sterbende Stadt. Und tatsächlich,
immer wenn große Brände oder Kriegseinwirkungen die Gegend
heimsuchten, erinnerten sie so an das eigene Schicksal und
man vernahm das Läuten der Glocken aus den Tiefen des
Brunnens.

Längst ist von der Burg Wersau nichts mehr zu sehen und
auch die Schmiede und Glockengießerei gibt es nicht mehr
in Reilingen. Im Keller des über der Ruine erbauten Hauses
aber ist noch heute ein schmaler Spalt unter Bodenplatten
zu finden, der den Blick freigibt auf ein altes
Brunnengewölbe. An einem Dienstag im September 1991, es
war gerade zur nachmittäglichen Kaffeestunde, tönte
plötzlich der Klang von Glocken durchs Haus. Keiner konnte
sich dieses Phänomen erklären.

Nur die versunkenen Glocken von Wersau kannten den Grund
ihres Läutens: Es war der 17. September und im Dorf
brannte die Mannherz-Halle . . . (og)

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