Heiligabend im Wald
10.12.09 (Brauchtum & Tradition, Geschichten & Erzählungen)
Für unsere Familie war es lange üblich, zu Weihnachten den Tieren im Wald Futter zu bringen. So auch am Heiligabend 1952. Am frühen Nachmittag spannte mein Vater unsere beiden Pferde vor die Kutsche. Mein Bruder und ich luden Kartoffeln, Maiskolben, Eicheln, Kastanien sowie Heu auf den Wagen. Etwas Proviant vom vorangegangenen Schlachtfest und heiße Getränke in zwei warm verpackten Thermosflaschen gab uns die Mutter mit.
In warme Decken gehüllt, machten wir uns auf den Weg: mein Vater, der Förster, mein Bruder Rudolf und ich. Der Weg führte uns über die Hardt, den N?-berg, bis hin zu unserem seit 1734 im Familienbesitz befindlichen Wald. Es hatte etwas geschneit. Die kleinen Fichten, die meine Eltern vor zwei Jahre angepflanzt hatten, ließen den Wald zu einem Märchenwald werden. So langsam wurde es dunkel, der Mond stand fast in seiner vollen Größe am Himmel, ein paar Sterne funkelten bereits. In Wald und Flur herrschte ein feierliches Schweigen. Von der Eubigheimer Kirche drangen Glockentöne leise zu uns herauf.
An der Lichtung angekommen, versorgten wir zuerst die Pferde mit etwas Futter, legten ihnen die Decken über. Dann gingen wir zu Fuß zu den beiden überdachten Futterkrippen. Wir verteilten das Futter für das Wild und zogen uns dann wieder leise zurück. Aber nur so weit, dass wir alles überschauen konnten. Auf unserem Platz, in dieser Stille, fühlten wir uns wie die Kinder, die auf den Weihnachtsmann warten. Da! Endlich hörten wir ein Rascheln zwischen den Bäumen und ein leises Knacken. Zögernd trat ein Reh an die eine Krippe, dann sich ängstlich umschauend ein zweites und drittes. An der zweite Krippe standen zwei kapitale Böcke. Reglos saßen wir in unserem Versteck, um die Tiere nicht zu verscheuchen. Es war ein ganz besonderes Erlebnis, die äsenden Rehe zu beobachten.
Auf diese Weise den Heiligen Abend zu erleben, war so wunderschön, dass ich mich heute in unserer ruhelosen, überaus hektischen Zeit immer wieder gern daran zurückerinnere. Halb erfroren, aber glücklich, fuhren wir auf unserer Kutsche nach Hause. Die beiden kleinen Petroleum-Laternen warfen einen flackernden Schatten, spendeten ein wenig Licht in der dunklen Nacht. „Jetzt ist Weihnachten, Kinder“, sagte unser Vater. Zu Hause angekommen, wurden nun zunächst noch alle Tiere im Stall versorgt, dann begann der Heiligabend für die Familie.
Autor unbekannt