Kurpfalz Regional Archiv

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Vom "roten Charly", badischem Wein und kurpfälzischer Gastfreundschaft

09.03.06 (Reilingen)

Beobachtungen rund um den Besuch von Ministerpräsident Günther H. Oettinger / „Badnerlied“ für einen Schwaben / Viel Zeit für Bürger / Reilinger Käsekuchen schmeckt auch dem Landesvater
Wie haben sich die Zeiten doch geändert: Kam früher der Landesherr zu Besuch, bereitete sich ein Dorf wie Reilingen bereits Tage vorher auf dieses Ereignis vor. Die Straßen und Häuser wurden geputzt und geschmückt, Fahnen wurden aufgezogen und die Schulkinder übten ein Willkommenslied ein. In den Schneidereien und Schuhmachereien, aber auch beim Barbier herrschte Hochbetrieb. Immerhin wollte der Landesherr ja im guten Anzug und mit Zylinder auf dem Kopf begrüßt werden – zumindest vom Schultheiß, seinem Gemeinderat und den Dorfhonoratioren. Als sich nun am Mittwochabend der Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsienten Günther H. Oettinger in der Spargelgemeinde ankündigt, ist von allem nichts zu spüren. Selbst der Himmel hat seine Schleusen geöffnet – und die vor den Mannherz-Hallen aufgezogenen Fahnen sind bei Nacht und Regen auch nicht zu sehen. Singende Kinder gibt es auch keine, dafür den Musikverein „Harmonie“, der unter der Leitung von Willi Ehringer in gewohnter Manier zur Unterhaltung der rund 300 Besucher im Saal fröhlich musiziert.
Da der Landesherr wegen einer anderen Verpflichtung in Linkenheim (Landkreis Karlsruhe) noch auf sich warten lässt und die Anwesenden auf eine mehr als einstündige Verspätung vorbereitet werden, heißt der örtliche CDU-Vorsitzende Rudi Askini zunächst die vielen Ehrengäste und politischen Mandatsträger willkommen. Und Bürgermeister Walter Klein nutzt die Gunst der Stunde (der Finanzminister des Landes, Gerhard Stratthaus, ist bereits anwesend), die schwierige finanzielle Lage der Kommunen am Beispiel Reilingens „als kleinem Mosaiksteinchen im Land“ zu beschreiben.
Als dies noch immer nicht ausreicht, die Wartezeit zu überbrücken, mischt sich der Finanzminister als lokaler Wahlkreisabgeordneter mitten unters Volk, um von hier aus die Abordnungen aus den einzelnen Gemeinden zu begrüßen. Die Schirmflicker (Neulußheim) werden ebenso erwähnt wie die Kühbumber (Altlußheim), das Hoggemer Sauerkraut oder die Reilinger Käskuchen. Begrüßt werden aber auch die Kollerkrotten (Brühl), die Schlossgartenbankert (Schwetingen), die Kienholzknorre (Oftersheim) oder die Backenbläser aus Plankstadt.
Reilingen nennt der Minister unter stolzem Beifall der Einheimsichen eine glückliche, weil tüchtige Gemeinde, so dass deren Verschuldung als beispielhaft für das ganze Lande zu nennen sei.
Nachdem der Referent des Ministerpräsidenten bereits in Graben-Neudorf fahrend die Ankunft des Trosses für die nächsten zehn Minuten ankündigt, schwört Stratthaus die Anwesenden nochmals darauf ein, als kurpfälzische Badener gastfreundlich auch zu Schwaben zu sein.
Draußen vor der Halle ist inzwischen „großer Bahnhof“ angesagt – aber wegen des Regens nur bis zum Vordach des Halleneingangs. Als endlich der Konvoi mit dem Ministerpräsidenten vorfährt, muss dieser eben die paar Schritte bis zum Begrüßungskomitee ohne Regenschutz gehen. Den Wunsch nach einem Eintrag ins Goldene Buch der Gemeinde Reilingen erfüllt Oettinger souverän, verbindet dieses Tun aber mit der Frage nach einem Glas Wein – es könne auch Badischer sein …
In der Halle selbst teilt Gerhard Stratthaus den Wartenden mit, dass gleich der Ministerpräsident „einbricht – äh – eintrifft“. Das Zeichen für Kapellmeister Willi Ehringer, den Taktstock zum Abspielen des „Badnerlieds“ zu erheben. Mancheiner im Saal blickt ungläubig als der schwäbische Landesvater ganz im Stil eines Souverän vollen Herzens alle Strophen der alten badischen Hymne mitsing – und dies richtig und sogar auswendig.
Der Auftritt des CDU-Spitzenpolitikers ist die nächsten 45 Minuten dann wenig spektakulär, keine verbale Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Immer wieder schildert er die Stärken des Musterländles, ist glasklar in seiner Analyse. Eine im Saal mit Spannung erwartete Aussage zum Hockenheimring bleibt aus, was die Abordnung aus der Rennstadt sichtlich verärgert. Der abschließende Beifall ist freundlich, der Aufbruch der Anwesenden dann schnell. Oettinger nimmt sich noch Zeit für die vielen Autogrammwünsche, gibt den Medienvertretern Interviews, diskutiert lange mit einer alleinerziehenden Mutter und gewährt auch noch dem leicht verschnupften Hockenheimer Stadtrat Herbert Kühnle eine „Privataudienz“. Da es der Ministerpräsident zum Ausklang gar nicht so eilig hat, sitzt er noch mit einem kleinen Kreis zusammen, genießt zu einem badischen Weißwein besten Reilinger Käsekuchen aus der Kreuzbäckerei. Alle Tische sind bereits abgeschlagen, die meisten Stühle wieder aufgeräumt, gibt Oettinger beim Flackern des Lichtes im Saal das Zeichen zum Aufbruch.
Die Sicherheitsbeamte mit dem Knopf im Ohr atmen auf, die beiden Reilinger Gemeinderäte Bernhard Krämer (CDU) und Karl Weibel (SPD) aber auch. Als Polizisten im Hauptberuf hatte Krämer seine Kollegen aus Stuttgart ob seiner Hallenkenntnisse unterstützt, und der „rote Charly“ sorgte in seiner grünen Uniform für dien flotte Abfahrt aus Reilingen. Schneller als die Polizei normalerweise erlaubt, rauscht der Streifenwagen, die Limousine mit dem Ministerpräsidenten und das Begleitfahrzeug durch die 30-Kilometer-Zone der Wilhelmstraße davon. In Reilingen ist wieder Alltag eingekehrt, es regnet noch immer – und zu Hause lockt die Fußball-Championslegue. Wie sich die Zeiten doch ändern …

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