Kurpfalz Regional Archiv

Geschichte(n) und Brauchtum aus der (Kur-)Pfalz

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Von Kerweborsch und Kerweschlumpel

23.10.96 (Brauchtum & Tradition)

Vor 300 Jahren beendete ein lautes Knacken wochenlange Pein, das
Übel wurde an der Wurzel gepackt und landete als fauler Zahn im
Staub des Seckenheimer Kirchplatzes. Ein paar Kupfermünzen mußte
der schmerzbefreite Bauer für die Operation in öffentlicher
Sitzung berappen. Zufrieden strich der Bader, der mit einer Zange
genauso geschickt wie mit Kamm und Schere umgehen konnte, das
Geld ein.

Nur wenige Meter weiter rissen derweil Gaukler ihre Possen, bot
fahrendes Volk seine Waren feil, Bratenduft kitzelte den Gaumen,
Musikanten forderten zum Tanz auf. Es war ein schöner Herbsttag
anno 1768, die Ernte war eingefahren, es war die Zeit der Kerwe,
dem alljährlichen gesellschaftlichen Höhepunkt im Dorfleben.

Der kurpfälzische Begriff „Kerwe“ leitet sich von dem Wort
„Kirchweihe“ ab. Im Mittelalter, also vor rund 1.000 Jahren, war
der „Tag der Kirchweihe“ gleichzeitig das Gemeindegründungsfest.
Kirche und Politik waren eins, die Gemeinde durfte damals ihren
Kirchturm selbst bezahlen. Kirchweih wurde jedes Jahr im Herbst
gefeiert, wenn das landwirtschaftliche Jahr zu Ende ging, die
Löhne ausgezahlt und die Arbeitsverhältnisse gelöst waren. Zeit
genug also, die Früchte der eigenen Arbeit zu genießen.

Friedlich und fröhlich muß es damals zugegangen sein. Ein
Gottesdienst eröffnete den Reigen, selbst der Gutsherr durfte
sich nicht lumpen lassen und mußte „Einen ausgeben“. Die Kerwe
brachte Abwechslung in den oft tristen Arbeitsalltag der Bauern.
Die im Ort zu dieser Zeit anwesenden Marketender (Händler), die
durch das ganze Land zogen, handelten schließlich nicht nur mit
Gebrauchsgegenständen, sondern auch mit Nachrichten.

Tagelang wurde gefeiert, und zwar so ausgiebig, daß im Jahr 1830
alle Kirchweihen in Baden per Dekret einheitlich auf einen
OktoberSonntag gelegt wurden. Dem „wochenlangen MüßigGang
von Kirchweih‘ zu Kirchweih'“ wurde so elegant ein Ende gesetzt.

Im 19. Jahrhundert erlebten die Dörfer gleichzeitig ihre
Blütezeit. Der ausbeuterische Feudalismus war abgeschafft, 70
Prozent der deutschen Bevölkerung lebte noch auf dem Lande. Erst
geraume Zeit später setzte die Landflucht ein. Damit freilich
verstädterten die Dörfer und verloren teilweise durch
Eingemeindung ihre Selbständigkeit.

Eine Hauptrolle in der kurpfälzischen Kerwetradition spielt dabei
die „Kerweschlumpel“. Mit ihr wurde seit alters her die Kerwe
eröffnet. Die Schlumpel ist eine Puppe eindeutig weiblichen
Geschlechts. Ein „Kerwepfarrer“ und seine „Kerweborsch“ bringen
sie zu einer „Kapelle“. einem Wirtshaus nicht unähnlich. Dort
wird sie für die Dauer der Kerwe in luftiger Höhe aufgehängt.
Auch noch heute ist ständige Wachsamkeit notwendig, denn die
„Borsch“ (Burschen) aus den Nachbargemeinden warteten damals wie
heute nur auf eine günstige Gelegenheit, die Kerweschlumpel zu
entführen. Reichlich Alkohol mußte dann als Lösegeld fließen. Mit
der Verbrennung der Kerweschlumpel, begleitet von düsterer
Trauermusik, fand das Kerwetreiben am Montag Abend ein Ende.

Berühmt, berüchtigt und beliebt zugleich war auch der KerweTanz
in den einzelnen Wirtschaften, wo die Tanzböden auf Hochglanz
poliert waren. Auch die Dorfjugend widmete sich intensiv dem
eigenen Erscheinungsbild, denn die Kerwe galt lange Zeit als
Heiratsmarkt. Alle erdenkliche Vorsicht war deshalb bei der Wahl
des Tanzpartners geboten. Wer einmal zusammen getanzt hatte, galt
fortan als Brautpaar.

Kerwe galt zugleich auch als Fest der ganzen Familie. Zu Hause
wurde gut und fein gekocht. Auf das Essen war die Hausfrau
besonders stolz, denn wenn einmal „Städter“ unter der
Verwandtschaft zu Besuch kamen, mußte man schließlich zeigen, was
man sich leisten konnte. Dabei durfte der Kerwekuchen, meist ein
dünner Hefekuchen mit Äpfel oder Zwetschgen belegt nicht fehlten.
Da damals in den meisten Häusern noch nicht selbst gebacken
werden konnte, durften die Kinder den Kuchen zum Bäcker tragen.
Diese hatten dies gar nicht gern, denn die „Brie“, die dabei aus
den Backöfen herauslief, mußte hinterher immer wieder abgewaschen
werden.

Vor allem für die Jugend war Kerwe ein unwiderstehlicher Magnet,
der sie jedes Jahr aufs Neue in den Bann zog. Doch den
Kerwefreuden konnte nur derjenige gelassen entgegensehen, der
über das notwendige Kleingeld verfügte. Beliebte Einnahmequelle
war zum Beispiel das Sammeln von Alteisen, das beim Lumpensammler
gegen Bares eingetauscht wurde. Daß sich selbst Mist zu Geld
machen ließ, bewiesen die „Knoddelbuuwe“. Der Verdienst war
allerdings abhängig von der Verdauungskapazität der Pferde von
Bauern und Fuhrleuten. Im „Knoddelkarre“ wurden die tierischen
Ausscheidungsprodukte eingesammelt und vor allem zu Gießereien
gefahren, die das dunkle Brennmaterial entsprechend versilberten.

Umgesetzt wurde der Lohn an den zahlreichen Buden, Ständen,
Karussells mit Pferden und Schwänen, Schiffschaukeln und den
„Gutselständen“. Es war auch auf der Kerwe, als den staunenden
Kurpfälzern mit „Nelle’s Kinematograph“ erstmals die Geheimnisse
des Filmes vorgestellt wurden. Von der allgemeinen
Spendierfreudigkeit profitierten aber auch Dudelsackpfeifer oder
Leierkastenmänner.

Kein Wunder, daß die ländliche Kerwe schon immer die Städter
anzog. Fast jeder hatte Verwandte oder Bekannte in einem der
Dörfer der Kurpfalz. Und so pilgerte man durch Wiesen und Felder
hinaus aufs Land. Ein beliebtes Ausflugsziel für die Mannheimer
war damals die „Gänseburg“ in den Neckargärten. „Aus dem Grünen
blickten reizende Villen, zahllose Sommerhäuschen, schattige
Lauben und chinesische Tempelchen“, war in der „Mannheimer
Zeitung“ zu lesen. Noch lauschiger ging es wohl im
„Mühlauschlößchen“ am Rhein zu: „Wem’s hier behagt, der setzt
sich zu Tische und blickt nach dem herrlichen Strom. Doch
plötzlich erschallt ein leichter geflügelter Walzer und es
schwärmen die Tänzer hinein. Dann schreitet man fröhlich die
Treppe hinab in das freundliche, liebliche Wäldchen“.

Während des Ersten Weltkrieges fiel die Kerwe an Rhein und Neckar
aus, und auch danach erwachte die alte Tradition nur sehr
zögerlich wieder zum Leben. Viel Zeit blieb jedoch nicht, denn
mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es erneut keinen Grund
zum feiern mehr. Und nach 1945 schien die alte Tradition
eingeschlafen zu sein. Doch zu Beginn der 60er Jahre schien die
Kerwe aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwachen. Landauf, landab
erinnerten sich Heimat oder Kerwevereine, Gesangs- oder
Musikvereine an den Brauch und erweckten die Kerwe wieder zum
Leben.

Heute gehört die Kirchweih wieder zum Jahresablauf wie Ostern
oder Weihnachten. Ein gutes Stück kurpfälzische Tradition lebt
wieder weiter  und das ist gut so.

Quelle: unbekannt

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