Sankt Wendelin zu Reilingen

Kirchen prägen bereits seit vielen Jahrhunderten die Ansichten von Städten und Dörfern. Ihre Türme sind weithin sichtbar und dienten einst Reisenden als Orientierungshilfe. Nicht selten wachte ein Türmer von oben herab über die Geschicke der Stadt. Von hier aus konnten anrückende Truppen ebenso früh ausgemacht wie ein beginnendes Feuer erkannt werden.
Das Morgen und Abendläuten kündete die Arbeitszeit an, die nur vom Angelusläuten zur Mittagszeit für eine kurze Pause unterbrochen werden durfte. Dinge, die damals praktisch und notwendig waren, sind heute längst zur Tradition geworden.
Auch in Reilingen prägen seit Jahrhunderten die Kirchtürme das Ortsbild. Seit 1905 ist es vor allem der Turm der neugotischen katholischen Kirche, der weithin in die Rheinebene ragt. Am kommenden Montag feiert ihr Schutzheilige, der Heilige Wendelin, seinen Namenstag. Grund genug für die Pfarrgemeinde, an diesem Wochenende ihr traditionelles
Wendelinsfest zu feiern.
Wer aber zur Zeit einen Blick zur Turmspitze hinauf wirft , stellt fest, daß diese eingerüstet wurde. Dringende Instandsetzungsarbeiten machten dies erforderlich. Die acht offenen Ornamentfenster des Glockenturmes müssen erneuert werden, da die Teile aus gelbem Sandstein durch Umwelteinflüsse stark verwittert sind und erst jüngst drohten, herabzustürzen. Nach den Sanierungsarbeiten soll zudem die Gelegenheit genutzt werden, Schallrolläden in die Fenster der Glockenstube einzubauen. Diese sollen die für manchen Zeitgenossen störenden Schallspitzen schlucken und dem Geläut einen gedämpften, volleren Klang geben. Für das Glockengestühl ist die neue Ausstattung zudem aber auch ein dringend notwendiger Witterungsschutz. Die Instandsetzungsarbeiten sind mit 120.000 Mark veranschlagt und werden sich noch einige Zeit hinziehen.
Fast den gleichen Geldbetrag mußte die katholische Kirchengemeinde übrigens zu Beginn dieses Jahrhunderts aufbringen, um den Neubau der Kirche zu finanzieren. Die Baukosten beliefen sich damals auf 142.076,76 Mark. Ein Betrag, der aber aufgrund der Wertschöpfung nicht mit einem gleichen Betrag von heute verglichen werden kann. So kostete um 1900 ein
Glas Bier im „Hirsch“ zwölf Pfennig und der Arbeiter verdiente beim Kirchenbau in der Stunde noch nicht einmal eine Mark. Als im Juni 1905 der Hauptaltar der neuen Kirche zu Ehren des Heiligen Wendelins geweiht wurde, übernahm man einfach den Namen des Kirchenpatrons von der alten Vorgängerkirche.
Diese hatte seit 1788 bis zur Weihe der neuen Kirche an der Ecke Haupt und Hockenheimer Straße neben dem Rathaus gestanden. Um damals den Kirchenbau zu ermöglichen, verpflichteten sich 29 Reilinger Familien am 12. Oktober 1788, „was zur Unterhaltung und Herstellung derselben mangelt, jedesmal aus ihrem eigenen Vermögen, in solang obgemelter Fundus abgehet, beizuschießen“.  Grund dafür war die Finanznot der katholischen Kirchengemeinde, die um 1740 aus gerade mal 40 Haushaltungen bestand. Die Katholiken feierten seit dem 17. Oktober 1743 ihre Gottesdienste in einer „Capell unter dem Rathaus“ ihre Gottesdienste. Zu den Gottesdiensten kam regelmäßig ein Kapuzinerpater aus Waghäusel, da man seit der Reformation keinen eigenen Pfarrherrn mehr hatte und das Verhältnis zur Hockenheimer Muttergemeinde nicht gerade bestens war.
Die Wendelinskirche hatte man mit der zweiten kurpfälzischen Kirchenteilung (1707) an die Reformierten abgeben müssen. Seitdem mußten die Reilinger zu den Gottesdiensten in die gotische Georgskirche nach Hockenheim laufen. Bereits 1726 wurde daher an das Landkapitel St. Leon der Speyerer Diözese die Bitte gerichtet, „under dem Ratshauß“ ihre Gottesdienste abhalten zu dürfen. Erst 17 Jahre später genehmigte das „hochwürdigste Vikariat Speier“ diese Bitte.
Die Geschichte der katholischen Kirche in Reilingen ist aber viel älter. Den schriftlichen Quellen nach gehörte Reilingen zunächst zur Pfarrei in Hockenheim. 1364 wurde der Ort im Zusammenhang mit der „ecclesia parochialis in Hochekein, Spirensis diocesis“ erwähnt. Erst 1446 konnte in Reilingen eine eigene Kapelle gebaut werden. Diese wurde bereits vor
551 Jahren dem Heiligen Wendelin geweiht. Dies bezeugt ein Aktenvermerk von 1451: „… ecclesia parochialis Sancti Wendalini connfessoris in Ruttlingen Spirensis dyocsis“. Man blieb Filialort von Hockenheim, dessen Pfarrer in Reilingen nur dann die Messe las, wenn er keine Verpflichtung in der Nachbargemeinde hatte. Dafür bekam er von den Gläubigen jährlich vier Gulden und zudem auf Geheiß von Pfalzgraf Otto nach jedem Gottesdienst ein Mittagessen im Wersauer Schloß.
In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Spannungen mit dem Hockenheimer Pfarrer, da beide Seiten das Recht am Opferstockgeld der Kapelle für sich in Anspruch nahmen. Erst 1473 schlichtete Pfalzgraf Otto den Streit. Die Reilinger verpflichteten sich „die obgenannt Capellen zu ewigen Tagen in guten Bau zu halten“. In einem Vertrag wurde außerdem das Gehalt und die Aufteilung des Opferstockes geregelt.
Es war dann Pfalzgraf Philipp, der sich dafür einsetzte, daß die Reilinger Katholiken im kommenden Jahr ihr 500. Pfarrjubiläum feiern dürfen: 1498 wurde eine selbständige „Pfarre“ eingerichtet und das Dorf dazu verpflichtet, „die neue Pfarrkirche an Bau und sonst mit allen geistlichen Gezierden ewiglich zu handhaben“. Im heutigen Unterdorf wurde sofort mit dem Bau einer Kirche begonnen und wiederum dem beliebten Volksheiligen geweiht. Was aus der alten Kapelle wurde, ist nicht überliefert. Die Heimatforschung geht aber davon aus, daß sie abgerissen wurde. Der verbliebene Schlußstein wurde in der Erdgeschoßkapelle des Turmes der evangelischen Kirche eingemauert und ist dort noch heute an dem kurpfälzischen Wappen zu erkennen.
Mit der Reformation war auch in Reilingen, je nach Bekenntnis des regierenden Kurfürsten, mal die calvinistische, lutherische oder katholische Religion bestimmend. Zeitweise fanden in der Wendelinskirche sogar Gottesdienste aller drei Konfessionen statt. Die Katholiken wurden wieder von Hockenheim aus betreut. Ihre Kirche war, wie bereits erwähnt,
durch die beiden Kirchenteilungen in der Kurpfalz letztendlich den Reformierten zugesprochen worden.
Heute ist dies längst alles Geschichte, die Ökumene wird auch in der Spargelgemeinde praktiziert. Und wer die Geschichte von Sankt Wendelin zu Reilingen betrachtet, stellt fest, daß es da mehr gibt als nur einen eingerüsteten Glockenturm im Herzen der Gemeinde. Auf jeden Fall ist für genügend Gesprächsstoff beim Wendelinfest im Josefshaus gesorgt  und
dies über alle Konfessionsgrenzen hinweg.                                        og

Mord am Hockenheimer Forsthüter Auer

Wenn von Wilderergeschichten die Rede ist, taucht fast immer das
bekannte Bild des gamsbarttragenden Wildschützen auf, der seinem
romantisch verklärten Treiben vor dem Alpenpanorama nachgeht.
Doch auch in der Schwetzinger Hardt war die Wilderei einmal zu
Hause. Nicht als exotische Randerscheinung, sondern als immer
wiederkehrende Tatsache, die recht häufig Jagdhüter, Förster und
die Polizei beschäftigte.
In einem alten Gerichtsprotokoll ist noch heute zu lesen: „Am
Radbuckel wurde am 7. August 1871 morgens vier Uhr der
Hockenheimer Forsthüter Stephan Auer, 43 Jahre alt, in der
Erfüllung seines Berufes durch Mörderhand erschossen.“ Beifügt
ist dieser amtlichen Feststellung eine Notiz des
großherzoglichbadischen Landgendarmen Heinrich Neuner: „Wir
haben heute die traurige Aufgabe einen Mord festzustellen, der im
Wald zwischen Hockenheim und Schwetzingen verübt wurde. Der
Forsthüter Stephan Auer, 43 Jahre alt, von Hockenheim, wurde
gestern Nachmittag halb 2 Uhr in der Abtheilung „Radbuckel“ todt
auf dem Gesichte liegend aufgefunden. Neben ihm lag ein brauner
Filzhut und ein Gewehrhahn mit einem Schaftfutter von der Waffe
des Thäters. Auer hatte einen Schuß in die Herzgegend und einen
Schlag auf den Hinterkopf erhalten“.
Auer war seit 1858 in den Diensten der Gemeinde Hockenheim und
erhielt ein Jahresgehalt von 300 Gulden. In der Heidelberger
Straße bewohnte er mit seiner Frau Margaretha und seinen Kindern
Martha und Martin ein bescheidenes Häuschen. Zudem betrieb er
nebenher noch eine kleine Landwirtschaft für den täglichen
Bedarf. Nach dem dem Tod begann für die Familie eine schwierige
Zeit, denn eine Hinterbliebenenrente gab es damals noch nicht.
Aus Anlaß der Ermordung des beliebten Forsthüters wurde im
Kirchenbuch der evangelischen Kirche folgender Eintrag vermerkt:
„Auer war ein pflichtgetreuer Bediensteter, Mann und Vater, wie
es nur wenige giebt, und zeichnete sich während seines Lebens
durch seine Rechtlichkeit und sein solides Wesen aus. Mit
rastlosem Fleiße und einem seltenen Muthe suchte er seine Pflicht
zu erfüllen“.
Forst und Wildfrevel war zur damaligen Zeit ein weit
verbreitetes Delikt. Das Großherzogliche MinisterialForstbureau
formulierte drastisch: „In ganzen Norden Badens ist hiernach der
Forstfrevel in jeder Beziehung weitaus am frequentesten. Dies
erklärt sich teils durch die verhältnismäßig größere Anzahl von
mit Nahrungssorgen schwer belasteten Familien, vorzugsweise aber
durch die den Mannheimer Proletariern nicht selten eigene Scheu
vor anstrengender Arbeit bei teilweiser Entsittlichung der
niedersten Volksklasse“.
Die Nachricht über den Mord verbreitete sich wie ein Lauffeuer
durch das Dorf. Ganze Volksscharen pilgerten hinaus in den Wald.
Die Landpolizei arbeitete fieberhaft an dem Fall und alle
Ermittlungen konzentrierten sich auf den am Tatort aufgefunden
Hut. Um den Mordfall aufzuklären und die Wilderei um Hockenheim
einzudämmen, setzte der Gemeinderat eine Prämie aus: „100 M. dem
Finder des Gewehres, womit der Forsthüter Auer ermordet wurde; 50
M. dem, der im hiesigen Walde oder Felde einen Wilderer, mit
einem Jagdgewehre versehen, mit Erfolg zu rechtskräftigen
Bestrafung anzeigt; 20 M. dem, der einen Wilddieb dahier auf dem
Stellen von Schlingen betrifft und zur Strafe bringt“.
Die Fahndungsarbeit der Polizei hatte tatsächlich Erfolg. Knapp
drei Wochen später stand in der Zeitung folgende Meldung: „Der
verheiratete Taglöhner Daniel Kreiner aus Walldorf, der schon am

  1. August nebst einigen Anderen verhaftet wurde, hat sich als
    Eigenthümer des bei dem ermordeten Waldhüter Auer gefundenen
    Hutes herausgestellt. Daß man nicht gleich den Kreiner, obwohl
    verdächtig, als Eigenthümer des Hutes bezeichnen konnte, hat
    seinen Grund wohl darin, daß er denselben nur zum Wildern trug,
    also mit seinem Gewehr im Walde vielleicht versteckt hatte; sonst
    trug er denselben nicht.“
    Den Mord an Waldhüter Auer nahm das Schwetzinger Bezirksamt zum
    Anlaß, die Einstellung eines zweiten Forsthüters in Hockenheim zu
    fordern, um so der Wilderei und dem Waldfrevel besser begegnen zu
    können. Diese Forderung wurde vom Hockenheimer Gemeinderat strikt
    abgelehnt. In seiner Sitzung am 14. September 1871 monierte er
    die finanzielle Belastung: „… erachten es aber auch als
    besondere Pflicht, bei den jährlich sich mindernden Einnahmen die
    jährlich sich mehrenden Ausgaben auf das Nothwendigste zu
    reduzieren, um so die meistens aus unbemittelteren Leuten
    bestehende hiesige Gemeinde vor Gemeindeumlagen zu schützen und
    dadurch den Wohlstand zu heben und beschließen einstimmig auf die
    Besetzung einer zweiten Waldhüterstelle nicht eingehen zu
    dürfen“.
    Das Wildern schien damals in weiten Bevölkerungskreisen als
    Kavaliersdelikt betrachtet worden zu sein. So konnte die Ehefrau
    des Wilderers Daniel Kreiner lange vor dem Mord an Auer ihren
    Bekannten unbekümmert erzählen, daß ihr Mann gerade weg sei, um
    nach den Schlingen zu sehen, die er gestellt habe und daß er beim
    Wildern als einen Hut trage.
    Im Oktober 1871 kam es zur Verhandlung vor dem Badischen
    Schwurgericht in Mannheim. Über den Indizienprozeß gegen den 37
    Jahre alten Taglöhner Daniel Kreiner wegen feigen Todschlags,
    Schlingenstellens und Berufsbeleidigung wurde in der „Mannheimer
    Zeitung“ ausführlich berichtet. Der Prozeß mit über 60 Zeugen war
    auf drei Tage terminiert, Kreiner wurde durch den Rechtsanwalt
    Rosenberger verteidigt.
    Der Tathergang wurde rekonstruiert: „Am Morgen des 7. August
    abhin, früh um 4 Uhr, begab sich der Forst und Jagdhüter Stephan
    Auer von Hockenheim, ohne Flinte, nur mit einem Stocke versehen
    und mit seiner Dienstmütze bekleidet, in die Abteilung Radbuckel
    des Hockenheimer Waldes, um Streufrevlern aufzupassen. Um 6 Uhr
    des Morgens wollte er seiner ausgesprochenen Absicht nach auf
    seinem Rückweg in der Waldabtheilung Eichelgärthen das Aufladen
    von Holz überwachen und dann um 8 Uhr wieder zu Hause sein. Am
    Nachmittag des folgenden Tages wurde er todt aufgefunden mit
    durchschossender Brust und eingeschlagenem Schädel. Bei der
    Leiche lag ein alter rothbrauner Filzhut und ein starker
    Gewehrhahn, sowie zwei Knöpfe und der durchschossene Rock des
    todten Mannes. Das ärztliche Gutachten ging dahin, daß der in das
    Herz eingedrungene Schrothschuß, der absolut tödtlich gewesen,
    von fremder Hand absichtlich und nicht etwa in Folge zufälligen
    Losgehens des Gewehres während einer etwa stattgehabten Rauferei
    zugefügt worden sei, daß dann Auer sofort in die Knie gesunken
    und, bereits mit dem Tod kämpfend, von dem Angreifer durch rasch
    aufeinander folgende, mit furchtbarer Gewalt geführte Hiebe mit
    einem Gewehrkolben vollends getödtet worden sei. Als
    muthmaßliche Täter wurden mehrere Walldörfer Einwohner, die als
    unverbesserliche Wilderer bekannt sind, verhaftet, jedoch bald
    wieder freigelassen mit Ausnahme des heutigen Angeklagten. Gegen
    diesen, eine außerordentlich häufig schon wegen Forst und
    Jagdfrevels bestrafte, als unverbesserlicher Wilderer bekannte
    und gefürchtete Persönlichkeit, häuften sich die Beweismomente,
    daß er den Auer um’s Leben gebracht habe, in einer Weise, daß
    dessen Verweisung vor’s Mannheimer Schwurgericht erfolgte, obwohl
    er selbst seine Schuld beharrlich läugnete“.
    Mehrere Indizien sprachen für die Schuld von Kreiner: So war er
    zur Tatzeit unweit vom Tatort im Wald gesehen worden. Außerdem
    gehörten ihm der Gewehrhahn und der Hut. Dazu hieß es in der
    Berichterstattung: „Darnach erscheint der Anklage die Vermuthung
    gerechtfertigt, daß der Waldhüter beim Zusammentreffen mit
    Kreiner diesem den Hut entrissen habe, um ein Beweismittel gegen
    ihn zu haben, und dann von jenem getödtet worden sei.“
    Obwohl Kreiner weiter beharrlich leugnete, verdichteten sich die
    Beweise.
    Nach drei Verhandlungstagen und abschließender Beratung lautete
    das Urteil der Geschworenen auf „schuldig“ mit Ausschluß
    mildernder Umstände. Kreiner wurde zu 15 Jahren Zuchthaus und auf
    Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf weitere zehn Jahre
    verurteilt. Einige Tage nach der Verurteilung gestand Kreiner im
    Zuchthaus in Bruchsal seine Schuld ein. Er sollte die
    Schwetzinger Hardt, in die es ihn immer wieder getrieben hatte,
    nicht wiedersehen. Im Herbst 1883 starb der Wilderer Daniel
    Kreiner in der Zelle 163 des Bruchsaler Zuchthauses an den Folgen
    einer nicht ausgeheilten Diphtherie. (og)

Vom fränkischen Dorf zum Zentralort oder Wo Hockenheim noch eine Altstadt hat

Noch heute wirkt das alte Hockenheim seinem Grundriß nach
als Straßendorf, das sich entlang der Oberen und Unteren
Hauptstraße längs des Kraichbachs in nordwestlicher
Richtung ausdehnt. Schmale Gäßchen, die verschiedenen
Mühlstraßen, führen von der Hauptstraße zum Bach hinunter
und bilden in diesem Teil des Straßendorfes ein enges,
verschachteltes Viertel, das sich noch heute durch einen
„bäuerlichen“ Charakter auszeichnet. Das Straßenbild wird
von Gehöften mit großen Toreinfahrten geprägt und zum Teil
durch Fachwerkbauten belebt. In der Hauptstraße fallen
noch heute die kleinen Tagelöhner und
Arbeiterbauernhäuschen auf.
Das Blättern in alten Akten und Plänen läßt das
AltHockenheim wieder lebendig werden und führt in eine
Zeit zurück, als die heutige Rennstadt fränkische Siedlung
und kurpfälzischer Grenzort war.
Bereits im Jahre 769 wurde das Dorf als „Ochinheim“
erstmals im Lorscher Codex urkundlich erwähnt. Hockenheim
ist damit eine der ältesten, amtlich bestätigten Gemeinden
in der Region. Heute kann man aber davon ausgehen, daß die
Siedlung schon viel früher entstanden ist, was vor allem
zahlreiche Grabfunde belegen.
Der kurpfälzische Geschichtsgeograph Johann Widder
berichtete 1781, daß „Hockenheim zu den gar groszen
Dörfern gehöre“. In den überlieferten 140 Häusern wohnten
damals 1.068 Menschen und es gab neben zwei Kirchen auch
ein katholisches Pfarrhaus, zwei Schulen und drei Mühlen.
Von einem Rathaus war jedoch nicht die Rede. Mittlerweile
aber weiß man aber aus anderen Quellen, daß 1717 ein
altersschwach gewordenes Gebäude durch ein neues ersetzt
worden war.
Alte Pläne und Zeichnungen lassen die gesamte Ausdehnung
des damaligen Dorfes erkennen und bieten die Möglichkeit
zu interessanten Vergleichen. So merkt man, daß der
Gebäudezuwachs in den letzten 20 Jahren fast fünfmal so
groß war, wie alles, was in 1.000 Jahren von 750 bis 1750
an Wohnhäusern in Hockenheim entstand oder davon übrig
geblieben war.
Der älteste Kern der Rennstadt ist der Bereich zwischen
Hauptstraße und Kraichbach oberhalb der Brücke in der
Karlsruher Straße. Der Bereich wurde an beiden Enden durch
herrschaftliche Höfe, zu denen auch die drei Mühlen
gehörten, abgeschlossen. Zwischen den großen Gütern
spielte sich also das Leben ab.
Die erste „planmäßige“ Ortserweiterung erfolgte im
Mittelalter bis hin zur heutigen Ottostraße, wo damals der
Ort mit einem Schutzzaun und einem Graben abschloß.
Hockenheim hatte damit den Charakter eines Straßendorfes
gewonnen und sich den planmäßigen Siedlungen im Bereich
der bischöflichspeyerischen Lußhardt angeglichen. Die
Kriegszerstörungen beeinflußten den Ortsgrundriß nicht und
die Hauptstraße nahm anfangs fast allen Zuwachs auf.
Nur wenige Häuser standen aber vor 1800 an der
Heidelberger Straße, einer wichtigen Hauptverkehrsstraße
zur damaligen Zeit. Am anderen Kraichbachufer in Richtung
Speyer stand einsam in den Feldern die noch heute
erhaltene Zehntscheuer, die später mit der „Alten
Apotheke“, dem Rupp’schen Haus (heute Metzgerei Hauser),
einen Nachbarn bekam.
Mitte des vorigen Jahrhunderts bekam die Heidelberger
Straße in der Schulstraße eine Parallele und es folgte die
Anlage der Walldorfer, Leopold und Friedrichstraße. Um
1900 begann man mit dem Durchbruch der heutigen
Rathausstraße erst richtig den Ortsetter nach Osten hin zu
sprengen. Schon 1909 reichte das bewohnte Gebiet bis zur
Hubertusstraße und 1926/28 wurden über dem Kraichbach die
Adler und Blumenstraße als letzte Straßenzüge
fertiggestellt.
Um 1931 begann die Bebauung zwischen Wasserturm und
Meßplatz, während nach dem Weltkrieg das Gelände zwischen
Schul und Karlstraße erschlossen wurde. Mit der Ausdehnung
hin zum Birkengrund setzte man die Bautätigkeit fort, die
seitdem bis heute ununterbrochen anhält. So ist der
Hubäcker und auch der Biblis längst bebaut und im Bereich
HockenheimSüd sind bereits die ersten Wohnungen bezogen.
Erst jüngst legte der Gemeinderat fest, die Ortsbebauung
über dem Südring entlang des Karletweges in Richtung
Reilingen fortzusetzen.
Eine starke Ausdehnung der bebauten Fläche, zugleich auch
große Änderungen im Landschaftsbild, brachte die seit 1957
im Gange befindliche Anlage eines geschlossenen
Industriegebietes. Zunächst einmal für den TalhausBereich
geplant, haben die Industrie und Gewerbeansiedlungen
längst die Stadt erreicht.
In nur 100 Jahren entwickelte sich so Hockenheim von einem
kleinen fränkischen Straßendorf zu einem im bedeutend
werdenden Unterzentrum mit der Chance, in gar nicht mehr
so ferner Zukunft zur Großen Kreisstadt zu werden. (og)

                                    

Kummer und Not zur Jahreswende 1945/46

Ein Jahr ging zu Ende, das einmal in die Geschichte eingehen
würde: Trauer um Millionen von Gefallenen und Toten durch die
Kriegseinwirkungen, Angst um die unzähligen Verschollenen, Sorge
ums tägliche Überleben. Die Angst um das Verhungern wird
gemildert durch das Glück, überhaupt überlebt zu haben.
Wiedersehensfreude und die Hoffnung auf eine bessere Welt prägten
die Gefühle am Jahreswechsel 1945/46 überall in der Kurpfalz.

Nur wenige Zeitungen erschienen zum ersten Silvester nach Ende
des 2. Weltkrieges und auf den wenigen Seiten war immer wieder zu
lesen, daß sich die Menschen „vom Ungeist des Nationalsozialismus
und Militarismus“ zu trennen hätten. In der Rhein-Neckar-Zeitung
forderte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss die Leser auf,
daß das „neue Jahr das Volk an der Arbeit sehen“ möge und „die
Grundlagen für eine bessere Zukunft zu schaffen“.

Im „Schwetzinger Morgen“ war von den Wünschen der Bürger zu
lesen: „Gar soviele erhoffen sich endlich Klarheit über das
Schicksal der vielen Vermißten und wünschen ihnen und den bereits
als gefangen ermittelten Soldaten eine baldige, gesunde Heimkehr.
Andere gehen in Richtung des Aufbaues oder der Bedachung halb
zerstörter Häuser. Dazu kommen noch zahlreiche Gedanken und
Hoffnungen bezüglich der Sicherung einer beruflichen Existenz.“
Trotzdem schließt der Verfasser damit, daß „Tränen, Kummer und
Not wohl noch lange unsere ständigen Begleiter sein werden“.

Wer sich nicht dank eigenem Land oder Vieh selbst versorgen
konnte, gute Beziehungen, etwas zum Tauschen oder
Organisationstalent hatte, für den blieb Schmalhans noch lange
Küchenmeister. Daß es bald wenigstens ein bißchen mehr zu essen
geben könnte, ließen Berichte über die Entwicklung der
zugewiesenen Lebensmittelmengen hoffen. So verdoppelte sich etwa
die einem Normalverbraucher über 18 Jahren zustehende Brotmenge
von 5.600 auf 11.450 Gramm im Monat. Die Fleischration
vergrößerte sich auf 440 Gramm  ebenfalls pro Monat.

Lebensmittel waren denn auch am begehrtesten auf dem blühenden
Schwarzmarkt. Und mancher machte auch mit heißer Ware gute
Geschäfte  solange ihn die Ordnungshüter nicht schnappten. Ein
Erfolg des Hockenheimer Landpolizeiposten wurde beispielsweise
Ende Januar 1946 vermeldet. So wurde ein Mann aus der Nähe von
Sinsheim geschnappt, der mit einem Fahrrad und zwei beladenen
Handwagen unterwegs war. In der Nähe des damaligen Bahnhofs
Talhaus versuchte er, allerlei an den Mann und die Frau zu
bringen. Die Polizisten stellten vier geschlachtete Gänse, drei
Hühner, zehn Pfund Zucker, ein Pfund Butter, über 400 Zigaretten,
224 Fingerringe, 36 Schlüsselketten und 12 Paar Damenstrümpfe
sicher. Ein Tag später hingen überall in der Stadt warnende
Flugblätter an den Wänden: „Wer gestohlene Sachen kauft, macht
sich der Hehlerei schuldig!“

Als „Sünde an der Heimat“ wurde in einer anderen Ausgabe des
„Schwetzinger Morgens“ der Holzdiebstahl aus dem nahen Hardtwald
und aus öffentlichen Anlagen angeprangert. Dies galt vor allem
für die Menschen, die immer wieder in den Schwetzinger
Schloßgarten eindrangen und dort „an völlig gesunden Bäumen auf
grobe Art Äste entfernten“.

Als vorbildlich gelobt wurde dagegen eine fürsorgliche Aktion der
örtlichen Gastwirte, deren Gäste nicht  wie sonst üblich  ein
Brikett oder einen Holzscheit mitzubringen brauchten. Sie
besorgten sich gemeinsam Brennholz über das Forstamt im
Hardtwald, damit dem Gast „nicht nur ein gutes Glas Bier oder gar
Glas Wein, sondern auch ein warmes Lokal zur Verfügung steht“.

Ablenkung von den Sorgen bereiteten zu jener Zeit unter anderem
Filme, Konzerte und Theateraufführungen. So freuten sich in
Schwetzingen die Menschen über eine Aufführung von Bernhard Shaws
„Candida“ durch eine Theatertruppe der US-Armee und in Hockenheim
führte ein Laientheater in der „Rose“ zur Fastnachtszeit den
Schwank „Die spanische Fliege“ auf. In Reilingen kam der Erlös
eines nach Dreikönig gezeigten Lustspieles den Kriegsgefangenen
und deren Familien zugute. Nicht nur wegen des guten Zwecks
sprach dieses ein breites Publikum im Saal des „Engels“ an,
sondern wohl auch wegen des Titels  „Arm wie eine Kirchenmaus“.

Geschmuggelter Wein und falsche Leberwurst

Nicht nur an den Festtagen biegen sich bei den meisten Menschen
der heutigen Zeit die Tische unter der Last der Leckereien. Die
Not leidender Menschen  wenn auch manchmal mitten unter uns 
scheint weit entfernt zu sein, man will leben. Im strengen Winter
1946 mit Temperaturen von unter minus 15 Grad, die die Kraichbach
und auch das Wasser im Waschlavoir in der ungeheizten Wohnung
zufrieren ließen, und Schneehöhen, von denen Kinder heute nur
noch erstaunt hören, konnten die meisten Menschen selbst von
einem einfachen Mahl nur träumen. Selbst Fastnacht wurde  wenn
überhaupt  nur bescheiden gefeiert.

Georg Zahn aus Hockenheim hatte ebenso wie zwei seiner Kameraden
das Glück, schon aus der amerikanischen Gefangenschaft
heimgekehrt zu sein. Darauf wollten die jungen Männer natürlich
am liebsten mit einem Glas Wein anstoßen. Wo aber sollte man zu
dieser Zeit in Hockenheim Wein herbekommen? Dank der im
Kriegsgefangenenlager geschlossenen Freundschaft zu einem Winzer
aus Rauenberg sollte es kein Problem sein, an den Wein zu kommen.
Wohl aber der Transport, denn wie die Lebensmittel in den Läden
war auch der Wein von der US-Militärregierung in Weinheim
beschlagnahmt worden.

Die drei Hockenheimer wären keine Hockenheimer gewesen, hätten
sie nicht eine Möglichkeit gefunden, doch noch an den Wein zu
kommen. „Wir haben unserem Freund Arm und Kopf verbunden und ihn
auf eine Trage gelegt“, wußte Oskar Haas die Geschichte immer
wieder lebendig zu erzählen. Da von einem Arzt „Seuchengefahr“
attestiert worden war, gelang es dem Trio, an einen
MilitärSanitätswagen zu kommen, der damals für die
Zivilbevölkerung eingesetzt worden war.

So kam man unbehelligt von den vielen Straßenkontrollen über
Reilingen, Walldorf und Wiesloch nach Rauenberg. Spät in der
Nacht wurden drei Kisten „1941er Mannaberg Riesling“ verladen und
unter dem „Kranken“ versteckt, der nun auf umgekehrtem Weg seine
Reise in das Hockenheimer Krankenhaus antreten sollte. Wiederum
kam man ohne Probleme durch die Sperren, denn vor Krankheiten
oder gar Seuchen hatten die GIs an den Kontrollen eine panische
Angst: „Ein kurzer Blick auf das Arztschreiben genügte und wir
wurden sofort weitergeschickt“. In Hockenheim angekommen, wurden
die Flaschen sofort geöffnet und zur Freude vieler Stammgäste im
„Grünen Baum“ ausgeschenkt.

Das Faible eines reichen bayerischen Molkereibesitzers für den
Wein aus dem Kraichgau, den er während seiner Studienzeit in
Heidelberg kennengelernt hatte, kam dem Reilinger Heinrich Krämer
zugute. Krämer hatte nach seiner Flucht aus einem
Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Innsbruck für einige Zeit
in der Molkerei in Memmingen gearbeitet. Heimgekehrt nach
Reilingen, nahm er Kontakt auf mit einem Winzer in Malsch. Immer
wieder habe er die Reise nach Memmingen angetreten, erinnerte
sich Krämer und erzählte von den überfüllten Zügen: „Die Menschen
hingen wie Trauben sogar draußen auf den Trittbrettern und ich
stand mit 20 Flaschen Wein im Rucksack auf der untersten Stufe.
Den ganzen Weg hatte ich mehr Angst, abzustürzen, als von der
Polizei kontrolliert zu werden“. Für jede Flasche gab es ein
Pfund Butter, die dann teilweise wieder in Mehl oder andere Güter
des täglichen Bedarfs eingetauscht wurde.

Aus nichts etwas einigermaßen Schmackhaftes zu zaubern  das war
die Kochkunst dieser mageren Jahre. Die Not machte auch in
Hockenheim erfinderisch und so reichte man unter der Hand ein
„Geheimrezept“ weiter, wie man ohne Leber oder Fleisch eine
ErsatzLeberwurst herstellen konnte. Dabei schwörte jeder Ort in
der Kurpfalz auf „sein“ Rezept. Es gab zahlreiche Varianten für
falsche Leberwurst, am beliebtesten in der Region um Hockenheim
aber war die „Leberwurst“, die aus einer Mehlschwitze mit Wasser
und etwas Milch hergestellt wurde. In diese Masse wurde Hefe
gegeben und mit Salz, Pfeffer und vor allem viel Majoran gewürzt.
Und das Essen wurde dann zu einer Delikatesse, wenn es dazu
Sauerkraut gab. (og)

Holzdiebstahl wurde zum Volkssport

Aus dem Jahr 1837 ist eine Mitteilung des Großherzoglich badischen Forstamtes in Schwetzingen erhalten, in der über „einfallende Rotten“ berichtet wird, die „in Schaaren Gehölz in die Dörfer der Hardt“ gebracht hatten, um es dort zu verkaufen. Worin lagen aber die Ursachen, daß sich der Forstfrevel zu einem Massenphänomen entwickelte?
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Schindelmacher wurden brotlos

Die Verwendung von künstlichem Baumaterial wie Backsteinen und Ziegeln wurde durch das römische Heer in Germanien eingeführt. Zwei Jahrtausende überdauerte das römische Ziegelmaterial, ohne seine Eigenschaften wie Festigkeit und Haltbarkeit zu verlieren. In Truppenziegeleien in der Nähe von Tonlagern wurden die zur Errichtung zahlreicher Bauten benötigten Mauersteine und Ziegel hergestellt. Ein Teil der für den Heeresbedarf hergestellten Ziegel war mit dem Stempel der betreffenden Legion versehen. Die Vorzüge des Baumaterials aus gebranntem Ton lernten auch die Germanen kennen. Weiterlesen

Die Rennstadt Hockenheim in einer Darstellung von 1933

Der Name Hockenheim war vor Jahren den meisten eine unbekannte
Größe. Es hieß schon viel, wenn man wußte, daß dieses Städtchen
in der Rheinebene an der Eisenbahnstrecke
MannheimSchwetzingenKarlsruhe lag. Ab und zu erzählten sich
auch die Autofahrer von den sprichwörtlich schlechten Straßen,
die dort anzutreffen sind.

Das alles ist sozusagen über Nacht anders geworden. Der Name
Hockenheim hat einen bedeutenden Klang bekommen und das Negative
hat sich in Positives verwandelt. Man weiß heute allgemein, daß
die Stadt Hockenheim in Unterbaden eine der aufstrebendsten und
ehrgeizigsten Stadtgemeinden ist, die an Propagandatüchtigkeit
dem benachbarten Schwetzingen in nichts nachsteht. Wie kein
zweiter Ort hat es verstanden, aus seiner nicht gerade
begünstigten Lage Kapital zu schlagen.

In der Zeit der schwersten wirtschaftlichen Krise hat es sich
emporgerungen und einen Optimismus an den Tag gelegt, der auf
einer gesunden, von mustergültiger Finanzwirtschaft getragenen
Spekulation ruhte und den Beweis lieferte, daß Tüchtigkeit und
Initiative auch über das Trotzdem der schlechten Zeiten Herr
werden können. Die große, bereits bei dem internationalen
Motorradsport eingeführte Dreiecksbahn ist der letzte und
bekannteste Trumpf, den Hockenheim ausspielte.

Aber diese ihm heute bereits von vielen Städten beneidete
Rennbahn wurde ihm nicht geschenkt, sondern es hat sie in einem
langen Kampf gegen Vorurteile, Behörden und Rivalen erkämpft. Sie
war eine eigene Idee, von Hockenheimer Sportleuten angeregt und
von der Stadtverwaltung Hockenheim sofort aufgenommen und
fruchtbar gemacht. Die gute Finanzlage der Stadt war die
Voraussetzung, daß man an ein solches, immerhin gewagtes Projekt
denken und an seine Ausführung gehen konnte.

Über 80.000 RM wurden im ersten Jahr für den Bau und die ersten
Anlagen der Rennbahn verwirtschaftet, sodaß sich denken läßt, mit
welcher Spannung man den Ausgang des ersten Rennens im Vorjahr
abwartete. Daß das Rennen mit einem Massenbesuch von 50.000
Menschen glänzend absolviert wurde, und für Hockenheim einen
Ehren und Ruhmestag in seiner Entwicklung brachte, verlieh der
Stadt nur neue Schwungkraft und Aktivität und lenkte plötzlich
die Aufmerksamkeit der gesamten Sport und Verkehrswelt auf den
sich vorbringenden Neuling.

Und heute (gemeint ist 1933) sucht man mit größtem Interesse
seine Karriere zu begreifen. Es ist nicht so, daß Hockenheim die
Jahre hindurch einen Dornröschenschlaf gehalten hat und nun wie
im Märchen aufgewacht wäre. Unermüdliche Arbeit an sich selbst,
Ausnützung aller Gelegenheiten und das Schritthalten mit der Zeit
hatten das Dorf des vorigen Jahrhunderts in die Höhe gebracht und
ihm im Jahre 1895 den Stadttitel eingetragen.

Die Schwelle dieser Entwicklung sind die 70er Jahre, als die von
Mannheim kommende Tabakindustrie in dem ärmlichen Dorf ihren
Einzug hielt und in den nachfolgenden Gründungsjahren Fabrik auf
Fabrik entstehen ließ. Was der Fabrikation den Anreiz zur
Niederlassung gab, war der glückliche Umstand, daß auf der
Hockenheimer Gemarkung der Tabakbau schon seit dem
merkantilistischen Zeitalter ansässig war und Erzeugung und
Verarbeitung eine praktische Synthese bildeten.

Heute ist Hockenheim mit 16 Betrieben und über 1.150
Tabakarbeitern der führende Tabakindustrieort im Lande Baden und
seine Zigarren sind in der ganzen Welt als Markenware bekannt.
Die Krisenjahre dieser Industrie, die der Schlüssel des gesamten
Wirtschaftsleben der Stadt sind, haben im letzten Jahr an die
Widerstandskraft der Stadt die schwerste Belastungsprobe
gestellt, wozu noch die Ausrangierung eines Großteils seiner
Arbeiter aus dem Mannheimer Industriegebiet hinzukam.

Es ist erstaunlich, wie sich Hockenheim trotz der für seine Größe
enorm hohen Wohlfahrtsaufwendungen, die heute 350.000 RM
betragen, nicht nur über Wasser halten, sondern noch erhebliche
Aktiva machen kann und seinen Arbeitslosen, wo es auch nur geht,
Verdienstmöglichkeiten zu bieten versteht. So ist Hockenheim im
wahrsten Sinne des Wortes eine Arbeits und Arbeiterstadt mit
einem kraftvollen Organismus, der zukunfts und ausdehnungsfähig
ist.

Mit vor zehn Jahren noch 7.899 Einwohnern, steht es heute an der
10.000Grenze. Fleiß, Arbeit und Sparsamkeit sind die tragfähigen
Fundamente dieser Arbeiterstadt, in der es so gut wie noch keine
Villen gibt, keine Monumentalbauten mit Ausnahme der beiden
Kirchen und des Wasserturms, der Sinnbilder der einfachen und
tiefsten Bedürfnisse des Menschen. Noch lebt Hockenheim ganz in
der bäuerlichen Atmosphäre und zwischen der handgebundenen
Zigarrenindustrie und der Landwirtschaft besteht keine große
Distanz.

Das Herüber und Hinüberwechseln sind das Gegebene, was die
bäuerliche Parzellenwirtschaft leicht gestattet. Die
Parzellierung drückt sich auch in der Aufteilung der Bauflächen
und der Hausgrößen aus. Der Großteil der Stadt besteht aus
bescheidenen Straßenzügen mit kleinen, spitzgiebeligen Häusern,
die sich in langen Ketten und einheitlicher Bauweise von der
durch die Kirchen, Fabriken, öffentlichen Gebäuden und einigen
Geschäftshäusern städtisch betonten Stadtmitte in die Ebene
hineinschieben. Sie tragen einen ausgesprochenen Dorf und
Siedlungscharakter, der der Stadt einen heiteren ländlichen Zug
verleiht.

Ein Beweis, daß die Stadt nicht auf ein größeres Hinterland zu
rechnen hat, und fast ganz auf sich gestellt ist, sind im
Vergleich zu anderen Städten (Schwetzingen, Wiesloch, Bruchsal,
Bretten) die verhältnismäßig geschäftsarmen Straßen: ein
ausgeprägtes Ladenleben ist nur in der Karlsruher, oberen und
unteren Hauptstraße formuliert. So hat sich der Handwerker und
Gewerbestand nicht übertrieben entwickelt und hat sich seine
Stellung als Mittel und Zwischenstand von Arbeiter und
Bauernschaft erhalten können.

Heute, wo man die Wiedergenesung Deutschlands in der
Landwirtschaft sucht, kann man in Hockenheim erfreulich
feststellen, daß das Land und die Scholle in dieser Stadt einen
großen Nährraum ausfüllen. Außer dem Tabakbau, der jährlich
nahezu 3.000 Zentner Tabak liefert, steht der Spargelbau, der im
Wasserturm, dem Hockenheimer Riesenspargel, die Reklame hat, in
großer Blüte und hat sich auf den Großmärkten durch seine
Qualitätserzeugnisse einen Namen geschaffen.

Wenn auch der Boden der Hockenheimer Gemarkung meistenteils aus
Sand besteht, und die Natur ihm wenig Reize verliehen hat,
Hockenheim versteht es aus dem FF, aus diesem Sand Gold zu sieben
und sich selbst seines Glückes Schmied zu sein.

Aus: Konrad Litterer, Lokale Nachrichten, 19.5.1933